Foto Egon Friedell
Foto: von Edith Barakovich

Berliner Eindrücke

In Berlin sind Hunderte von Menschen fieberhaft um eine Unordnung bemüht, die in Wien ein einzelner Dienstmann spielend zuwege bringt.

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Eine herrliche Berliner Einrichtung ist der Autobus mit Dach, höchst geeignet zum Spazierenfahren. Ich fuhr letzthin zu diesem Zweck nach Halensee.

An der Endstation sagte der Schaffner: „Der Herr muss aussteigen.“

„Nein“, sagte ich, „meine Geschäfte hier sind schon erledigt; ich fahre gleich wieder zurück.“

„Da muss der Herr aber trotzdem aussteigen“, sagte der Schaffner, „denn der vordere Wagen fährt früher weg.“

„Das macht nichts“, sagte ich, „ich bleibe trotzdem sitzen.“ Er entfernte sich kopfschüttelnd.

Alsbald erschien in großer Hast ein zweiter Schaffner: „Der Herr sitzt im falschen Wagen, der vorne macht macht früher weg.“

„Nein“, sagte ich, „ich habe Zeit.“ Schon begannen sich erregte Gruppen zu bilden.

Schließlich kletterte ein achtjähriger Knabe aufs Dach und rief: „Wenn der Herr nicht sofort aussteigt, verliert er volle vier Minuten!“

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Ich habe Berlin allen Ernstes als Luftkurort entdeckt. Es hat von allen Städten Mitteleuropas das weitaus beste Klima. Aber jeder Berliner, dem ich das erzählte, hielt es für einen Witz. In Wien ist das ganz anders. Wien hat das beste Wasser des Kontinents. Infolgedessen erwidert jeder Wiener auf alle Vorhaltungen über Faulheit, Dummheit, Unbildung, Schlamperei, Korruption und dergleichen, „Ja, aber unser Hochquellwasser. Wer in der Welt kann uns das nachmachen?“ Von diesem Einwande lebt der Wiener seit Generationen. Wäre der Berliner wie der Wiener, so könnte er von der Berliner Luft leben.

Egon Friedell (1924)