Brennen im Wind

Tobias ist schon als Kind allein aus einem Ostblockland geflüchtet und lebt jetzt in der französischen Schweiz. Er arbeitet in einer Uhrenfabrik und hat eine feste Freundin. Was wie die Kurzfassung eines mehr oder weniger gewöhnlichen Lebens klingt, betrachtet Tobias nur als bedeutungslose Phase vor dem eigentlichen Lebenszweck.

Er ist besessen von der fixen Vorstellung, dass die eine, große Liebe auf ihn wartet. Line nennt er seine Fantasiefigur, auf die er seine Sehnsüchte projiziert. Line steht für Caroline, eine Schulkollegin aus der Kinderzeit, die Tobias damals eher genervt als angenehm berührt hatte. Aber sie konnte im Gegensatz zu ihm einen Vater vorweisen, während er der uneheliche Sohn der Dorfhure war. Dass Carolines Vater, der Lehrer auch sein Vater ist, erfährt Tobias erst kurz vor seiner Flucht in den Westen.

Eines Tages verschlägt es die reale Caroline gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus beruflichen Gründen in die Schweiz — in die unmittelbare Nähe von Tobias. Tobias erkennt Caroline sofort wieder und setzt alles daran, sie zu erobern.

„Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt,“ stellte dereinst Hemingway fest. Dass es sich lohnt, für die Liebe alles aufs Spiel zu setzen, sagt dieser Film aus.

Und Tobias ist ein Typ, der bei allen Dingen eine Konsequenz an den Tag legt, die offenbar keine Grenzen kennt. Die begehrte Caroline mit dem Feldstecher durch die Fenster ihrer Wohnung zu beobachten, ist für ihn selbstverständlich.

Als Kind versuchte Tobias, seine Mutter und seinen Vater zu ermorden, nun sticht er ohne Reue oder Gewissensbisse mit einem Küchenmesser auf Carolines Ehemann ein.

Silvio Soldini gelingt es, die Figur des Tobias trotz dessen grenzwertigen Umgangs mit Tabuzonen wie Mord oder Inzest nicht unsympathisch wirken zu lassen.

Wie sich Tobias über soziale Konventionen hinwegsetzt, um seiner Leidenschaft zum Ziel zu verhelfen, spricht etwas an, das wir tief in uns wohl alle kennen.

Als „gewöhnlicher“ Ehebruch oder unrealisierbare sexuelle Fantasie kommt die verbotene, unmögliche Liebe täglich vor. Soldini zeigt die exzessive Variante.

Gleichzeitig ist Liebe wohl der falsche Ausdruck. Gerade dieser verantwortungsfreie Umgang mit der Leidenschaft desavouiert Tobias‘ romantisches Ideal von der großen Liebe.

Wer sich einen Liebesfilm erwartet, geht in die falsche Vorstellung. In der Wahrnehmung gewinnen die gesetzten Grenzüberschreitungen des Helden gegenüber seinen Gefühlen die Oberhand. So bleibt der Film vorwiegend die Studie einer Obsession. Dennoch berührt der Film auf seltsame Weise.